30.06.2019 Sonntag 11:00 Uhr, Kölner Philharmonie
Der Besuch lohnt sich! An der Oper Dortmund ist gegenwärtig die Oper Wunderland von Alexander Jansen (Musik: Anno Schreier) auf dem Spielplan: https://www.theaterdo.de/detail/event/18329/.
Jansen, A. & Erche, J. (2017). Ich habe meine Musik mitgebracht. Lieder, Spiele und Geschichten von Flüchtlingskindern. Für Kita und Schule. München: Don Bosco Medien GmbH. 136 Seiten, Klebebindung, kartoniertes Buch, farbig illustriert, Notensatz, inkl. Musik-CD mit 61 Minuten Spielzeit. ISBN: 978-3-7698-2279-3, 19,95 €
Dieses sehr berührende, aus 28 Liedern, einem Singspiel, zwei Klanggeschichten und 21 Spielen bestehende Werk lässt sich am besten mit den Worten der beiden Autoren Juliane Erche (Musikerin und Musiktherapeutin) und Alexander Jansen (Heilpädagoge, Musik- und Theatertherapeut und Librettist viel gespielter Opern) vorstellen. Im dem erschütternden Vorwort unter der sinnfälligen Devise „Iftah Ya Simsim!“, „der Zauberformel „Sesam, öffne dich!“ aus „Tausendundeiner Nacht“, die das Felsentor einer Schatzkammer zu öffnen vermag“, berichten sie von Jansens Besuch einer Gemeindeveranstaltung äthiopisch-orthodoxer Christen, in der sechs weiß gewandete Mädchen und ein ebenso hell gekleideter Junge eigene vielstrophige Texte zu einer alten äthiopischen Melodie vortrugen. „Sie sangen von ihrer Flucht, der beschwerlichen und langwierigen Reise, die sie, ohne ihre Eltern, in mehreren Etappen von Äthiopien über den Sudan, durch die Wüste Lybiens an die Mittelmeerküste führte. Dort gelangten sie in viel zu kleinen und überfüllten Booten an Europas Küste, ehe sie auf verschlungenen Routen bei uns ankamen. Alle diese Wege und Stationen waren bedrohlich für Leib und Leben.“ Weitere solche Erlebnisse hatten die Autoren auf einem Flüchtlingscamp und in Heimen. Sie entschlossen sich, „immaterielle kulturelle Zeugnisse von und für Kinder zu sammeln als Zeichen der Identität, der Hoffnung, der Phantasie, der Verbindung von Mensch zu Mensch. So sammelten wir in einem mehrmonatigen Prozess in verschiedenen Einrichtungen der Flüchtlingshilfe – von der Clearingstelle für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, über heilpädagogische Wohngruppen bis zur großen Sammelunterkunft – Kinder wieder, Spiele und Geschichten. Wir arbeiteten dabei mit Kindern, Jugendlichen und Familien aus Afghanistan, Albanien, Aserbaidschan, Äthiopien, der Elfenbeinküste, Eritrea, Gambia, Ghana, dem Iran, dem Irak, dem Kosovo, Libyen, Mali, Pakistan, Russland, Somalia, dem Sudan, dem Südsudan, Syrien, Togo und der Ukraine. Dabei erlebten wir den Zauber der Kindheit gerade besonders dann, wenn beispielsweise pubertierende Jugendliche, die sich anfangs schämten, zu Kindereien befragt zu berichten, ihre kindlichen Anteile aktualisierten, sich ihre Augen mit Leben füllten und dann hüpfend und springend durch ein Zimmer tobten, wie etwa eine Kleingruppe afghanischer Heranwachsender unterschiedlicher Ethnien bei der Demonstration eines turbulenten Fangspiels. Jedoch spürten wir ebenso immer wieder den unheilvollen und weitreichenden Einfluss und Krieg, Gewalt und Unterdrückung. Da gab es junge Menschen aus Kriegs und Krisengebieten, die trotz der Hilfe von Übersetzern nicht genau wussten, was genau wir mit „Spiel“ meinten, der scheinbar sinnlosen Freizeitbeschäftigung, die von selbstvergessener und purer Lebensfreude geprägt ist.“ Noch mehr solcher Berichte enthält das Vorwort. Es ist den Autoren unumwunden zuzustimmen, dass ihre beeindruckende Sammlung „den Geist der Schönheit atmet und von reichen, wenn auch manchmal uns noch fremden Kulturen kündet.“
Sämtliche von Juliane Erche transkribierten Melodien sind mit der Originalsprache in lateinischer Schrift und mit deutscher Textfassung des für seine sprachlichen Nuancen nicht hoch genug zu bewundernden Alexander Jansen unterlegt. „Manche Melodien vereinfachten wir behutsam für den Praxisgebrauch und passten sie sanft den europäischen Hörgewohnheiten an. Auch die Gitarrenbegleitung haben wir umsichtig im Spannungsfeld zwischen dem Original und seiner Machbarkeit hinzugefügt.“
Für jedes Lied und Bewegungsspiel ist unter seinen Namen sein Herkunftsland angegeben und wird am Ende über die Umstände informiert, unter denen es dort verwendet wird und was es bezwecken soll.
In einem farblich abgesetzten Kasten sind die sechs wichtigsten Hinweise angegeben:
· Kategorie (Mutmachlied, Bewegungsspiel, Klatschlied, Schlaflied, Sprechgesang, freie Luftspiel, Ballspiel, Tanzen, elementares Musikspiel, Liebeslied, Besinnungslied, Trostlied usw.)
· Thema (Körper, Familie, Gemeinschaft, Begrüßung, Abschied, Zusammensein, verstecken und wiederfinden, Tierstimmen, Puppenspiel, Geschwister, Befindlichkeit, Gesundheit, Ordnung, Religion, Furchtlosigkeit, Achtsamkeit, Spiritualität, Freundschaft, Bildung, Träume, Geborgenheit, schlafen, Ruhe, Heimweh usw.)
· Intention, Förderziel (Besinnung, Tagesstruktur, austoben, Reaktion, Empathie, Gruppengefühl, Mitgefühl, Freude, Phantasie, Harmonie, Zuneigung, Geborgenheit, Zusammenhalt, Selbstbewusstsein, Sicherheit, Bewegungskoordination, Geschicklichkeit, Grobmotorik, Körpersprache, Fingerspiel)
· Alter
· Material (Handtrommel, große Trommel, Gitarre, klatschen, Glockenspiel, Tamburin, Monochord, Klanghölzer, Tiermasken, Metallobjekte mit Schlägel usw.)
· Schwierigkeitsstufe
Das Buch ist ausgesprochen schön gestaltet. Allein schon das Durchblättern ist ein Genuss. Die farbenreichen, zu den Liedern und Spielen passenden Bilder des aus dem Iran stammenden Illustrators Maneis laden zum Verweilen ein. Gelungen ist auch die unter der Leitung von Daniela Bauer entstandene CD des Jugendchors Audacia der Sing- und Musikschule Würzburg. Und zudem stellt der Verlag kostenloses Zusatzmaterial zum Download bereit.
Diese ungewöhnliche schöne und didaktisch und methodisch sorgfältig durchdachte Sammlung von Liedern und Spielen aus 20 fernen Ländern ragt unter den zahlreichen Publikationen für Kinder in jeder Hinsicht in besonderer Weise hervor. Es eignet sich für die Arbeit in Pädagogik und Therapie insgesamt. „Spielend, singend und bastelnd lernen die Kinder mit den Angeboten dieses Praxisbuchs etwas über die Lebensgewohnheiten, Bräuche und Sprache der Länder kennen, aus denen die sog. Flüchtlingskinder mit ihren Familien geflohen sind.“ In einer globalisierten Welt kann nicht früh genug das Verständnis und Einfühlungsvermögen in Leiden und Freuden anderer Kulturen unter ständiger Not und Lebensgefahr zu uns gekommenen Migranten geweckt werden.
Dieses reichhaltige Buch demonstriert nicht zuletzt das überragende künstlerische Können der beiden Autoren, ihre akribische Sorgfalt in der Dokumentation und pädagogischen Vermittlung der positiven Kraft von Musik, aufbauender Sprache und spielerischer Bewegung und vor allen Dingen ihre ungemein liebenswürdige Art ihres Engagements, schwerst traumatisierten Kindern und Jugendlichen bei der Verarbeitung ihrer bitteren Erlebnisse zu helfen und ihnen Freude und Perspektiven zu geben – gemäß dem Brücken bauenden Projekt „Sonne im Herzen. Kreativität und künstlerische Therapie. Julia Erche/Alexander Jansen. www.sonneimherzen.org“.