Aufgrund der Verkürzung des Weiterbildungsstudium Musiktherapie kam in letzter Zeit das therapeutische Singen zu kurz. In den Musiktherapiestudiengängen wird das Singen größtenteils schon gar nicht angeboten. Es gibt schließlich kaum einen Musiktherapiedozenten, der in seinem Studium das Fach Singen hatte. Für Schul- und Kirchenmusiker dagegen ist der Gesangs- und Chorleiterunterricht obligatorisch. Und selbstverständlich ist die Teilnahme am Hochschulchor ebenfalls verpflichtend. An vielen Musikhochschulen ist der Einzelunterricht in Gesang sogar zweimal in der Woche vorgeschrieben – so jedenfalls zu meiner Studienzeit in Freiburg.
Aufgrund des verheerenden Einflusses von Th. W. Adorno kam das Singen in den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts in Verruf und wurde in den nördlichen Bundesländern vollkommen abgeschafft, während es in Süddeutschland zwar erhalten blieb, aber leider ebenfalls in Misskredit geraten und erheblich eingeschränkt worden war.
Ungebrochen und trotz der musiksoziologischen Kampagne gegen das Singen sogar noch verstärkt entwickelten sich in ganz Deutschland die zahlreichen Chorgemeinschaften. Laut dem vom Deutschem Musikrat herausgegebenen Musikalmanach sind mehr als „3,3 Millionen Menschen in 61.000 Chören aktiv“ (Wikipedia).
Die insbesondere in der Musiktherapie grassierende Vernachlässigung des Singens zugunsten der seit den 70er Jahren aufgekommenen musikalischen Improvisation auf einfachen Instrumenten haben nun einige Leute ausgenutzt und vermarkten die sog. Singleitung für jedermann. Wie die von ihnen herausgegebene CD zeigt, singen sie ungeniert bar jeglichen Anspruchs an ein Niveau, wie es bereits in jedem Dorfchor besser angestrebt wird. Ihre Adressaten sind irgendwelche Leute, die offensichtlich weder vom Singen noch von Musiktherapie viel verstehen und sich von der Euphorie, wie sie in den Sensivitytrainings und Encountergruppen, die sich längst überlebt haben, gang und gäbe waren. Während die Jugendbewegung um 1900 und die Volksliedbewegung der rührigen Volksschullehrer um Fritz Jöde bis vor dem 2. Weltkrieg noch auf ein ästhetisch ansprechendes und gleichwohl gefühlstiefes ausdrucksvolles Singen im „Volkston“ (Herder) Wert legten, ist dieses nun propagierte Singen eher ein greuliches Geplärre von durchaus wohlmeinden, aber wohl vorwiegend eher narzisstischen Dilettanten. Gleichwohl haben sie Erfolg. Daher ist es geboten, in die Musiktherapieausbildung die zertifizierte Singleitung zu integrieren und die mit dem Singen verbundenen physischen, psychischen und sozialkommunikativen Effekte systematisch zu benennen und Methoden der Vermittlung und Beeinflussung zu zeigen, um einerseits selbst jenes mit dem Singen verbundene tiefe Gemeinschaftsgefühl und Sichselbstvergessen zu erleben und anleiten zu können, aber um auch zu verstehen, warum Adorno, Warner, Abraham u.v.a.m. das Singen so vehement verteufelt haben, was die Folge des Missbrauchs in der Nazizeit war und nur in Deutschland ein Problem geworden war.
Wie groß das Bedürfnis nach Singen in der Bevölkerung ist, zeigt das aus Schulen und Freizeiteinrichtungen mit Kindern und Jugendlichen seit langem bekannte Rudelsingen (siehe auch den Bericht in den WN vom 26.5.2012). Termine.
Das Programm zum 20.-22.4.2012: musiktherapie.de.tc